Treffpunkt Borderline

15. Januar 2020, posted in ThemenblogSkills – warum sind sie so wichtig?

Was sind Skills?

Skills sind die täglichen Begleiter eines jeden Borderliners / einer jeden Borderlinerin. Doch was genau sind Skills und wie helfen sie?

„Fähigkeiten“ wäre die korrekte Übersetzung. Doch hinter dem Begriff steckt noch einiges mehr als nur eine Fähigkeit. Es kann zu unserem „Überlebensmittel“ werden – etwas, das uns in schwierigen Situationen hilft, klar zu kommen, klar zu denken, uns zu fokussieren. Zudem muss ein Skill bestimmte Fertigkeiten mitbringen. Es muss sich um etwas handeln, das die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, oftmals jedoch ohne auffallend zu sein. Es darf langfristig keine schädliche Wirkung haben, im besten Fall wirkt es sogar direkt beruhigend und gesundheitsförderlich (ein Skill ist niemals gesundheitsschädlich!). Und zu guter Letzt muss der ausgewählte Skill zu der Situation passen, in der man ihn nutzen möchte, er muss sofort einsatzbereit sein. Somit benötigt man verschiedene Skills für verschiedene Situationen, sodass jeder Skill einzigartig ist und man schließlich ein einzigartiges Skillset besitzt – eine Sammlung an Fähigkeiten, die uns in schwierigen Situationen schnell und wirkungsvoll wieder beruhigen, um weiter stabil bleiben zu können.

Skills sind grundverschieden. Man unterscheidet zwischen gedankenbezogenen, handlungsbezogenen, körperbezogenen und sinnesbezogenen Skills.

Körperbezogene Skills

Körperbezogen, ohne wirklich eine Handlung durchzuführen, ohne Gedanken und Gefühle zuzulassen, ist im Grunde nur ein einziger Skill: Das intensive Konzentrieren auf die eigene Atmung. Sie ist immer da, sie ist rhythmisch, sie fließt und gibt uns neue Kraft. Unsere Atmung bringt Neues herein und lässt Altes den Körper verlassen. Sie ist ein mächtiger Skill – aber auch schwierig zu erlernen. Sich voll auf den Atem konzentrieren, ganz bei sich sein und dabei Gedanken und Gefühle außer Acht lassen, ist äußerst schwierig und daher für viele Menschen nicht der richtige Skill.

Gedankenbezogene Skills

Durch gedankenbezogene Skills lenkt man seine eigenen Gedanken auf positive oder zumindest andere Dinge als die aktuelle Situation. Dies kann durch Kreuzworträtsel/Sudokus/etc sowie durch Reisen ins Innere Selbst passieren, ebenso gehören hierzu Meditation, Gebete und Achtsamkeitsübungen sein.

Beispiel (gedankenbezogen):
Mir steigt eine Situation zu Kopf, ich merke, dass ich bald meine Kontrolle verliere. Ich entscheide mich an dieser Stelle, die Gedanken zu stoppen, die gerade aufkommen („Warum ich?“ „Was soll das?“ etc), in dem ich mir selbst ein Stop-Schild innerlich vorhalte. Dann starte ich mit einer mir gut bekannten Achtsamkeitsübung. Diese kann zum Beispiel eine Übung sein, in der ich mich ganz darauf fokussiere, wo ich gerade bin, wie alt ich bin, was ich als Beruf gelernt habe, was ich für morgen einkaufen muss, etc. Die aufgekommenen negativen Gedanken sollten durch die Achtsamkeitsübung langsam verblassen, und ich kann mich beruhigen.

Sinnesbezogene Skills

Sinnesbezogene Skills beziehen sich auf die Wahrnehmung. Das können Gerüche, Geräusche, Geschmäcker, etwas Sichtbares oder Tastbares sein. Ich konzentriere mich vollkommen auf meine Sinne. Gerne nehme ich in schwierigen Situationen, gerade wenn ich merke, dass ich kurz vor einer Dissoziation stehe, die 5-4-3-2-1-Übung. Hier beachtet man in absteigender Reihenfolge eine Anzahl an Dingen mithilfe seiner Sinne. Jeder kann sie natürlich für sich anwenden, wie es für ihn/sie am Besten passt. Für mich hat sich die folgende Methode bewährt:

Beispiel „5-4-3-2-1-Übung“ (sinnesbezogen):
Ich stelle mich hin und beginne langsam durch den Raum zu gehen (Die Augen halte ich hierbei die meiste Zeit über geschlossen). Dabei konzentriere ich mich zunächst auf 5 Dinge, die ich hören kann. Ich wiederhole innerlich ein paar Mal, welche Dinge das sind („Auto, Wind, Lachen, Schritte, Fahrradklingel“). Nun berühre ich 4 Dinge und wiederhole innerlich einige Male, wie sie sich anfühlen („weich, rund, eckig, flauschig“). Drei Dinge suche ich mir zum Ansehen heraus und notiere innerlich, welche Farben mir auffallen („gelb, blau, grau“). Zwei Sachen möchte ich über den Geruch zuordnen („Der Wind riecht nach Regen auf Erde; Das Zimmer riecht nach dem letzten Mittagessen“). Wenn möglich, versuche ich nun noch zu identifizieren, was ich gerade schmecken kann (z.B. die Zigarette, einen Schluck Wasser, etc).

Handlungsbezogene Skills

Oftmals aufgrund der Antriebslosigkeit aus den Depressionsschüben am schwierigsten umzusetzen sind die handlungsbezogenen Skills. Dennoch sind gerade diese unheimlich wichtig, da hier zumeist wichtige Hormone ausgeschüttet werden und Stress effektiv abgebaut werden kann. Am deutlichsten zur Handlungsgruppe zugehörig sind bewegungsintensive Sportarten wie Joggen, Walken, Schwimmen oder Ballsportarten. Aber auch durch Unterstützung anderer wird man aktiv.

Beispiel (handlungsbezogen):
Mein Kopf droht zu explodieren und ich weiß nicht mehr, wie ich dem Gedankenkarussell entkommen soll. Meine Freundin hatte gefragt, ob ich in den nächsten Tagen etwas Zeit hätte, um mit ihr ein wenig die Wohnung zu dekorieren. Als Entschädigung würden wir anschließend gemeinsam kochen. Die Aussicht hierauf erhellt schon den Moment, ich rufe sie an und mache mit ihr ein Treffen noch heute Mittag aus. Während des Dekorierens der Wohnung merke ich kaum, wie die negativen Gedanken schwinden. Nach dem gemeinsamen Kochen und Essen gehe ich entspannt nach Hause und kann den Abend (zumindest ein wenig) genießen.

Wieso reden Borderliner ständig von Skills?

Was für eine/n Borderliner/in ein wichtiger Skill ist, den er/sie sich durch ständiges Üben antrainieren musste, ist für andere eine Kleinigkeit, die man instinktiv einsetzt. Hier beginnen die Verständnisprobleme oft: Sätze wie „Geh doch einfach mal raus!“ kennt sicher jede/r Borderliner/in. Und obwohl wir meistens wissen, dass es helfen würde, ist es uns nicht möglich, diese Idee umzusetzen.

Sie würden doch auch nicht den Rollstuhlfahrer mit gebrochenen Beinen darum bitten, einfach die Treppe zu nehmen, wenn der Aufzug kaputt ist, oder? Ebenso wie dieser erst (wieder) lernen muss, zu laufen, müssen wir Borderliner erst lernen, „normale“ Tätigkeiten und Fertigkeiten um- und einzusetzen.

Denn während der „normale“ Mensch in seiner Kindheit gelernt hat, mit bestimmten Situationen gesund umzugehen, hat dies der/die Borderliner/in leider nicht gelernt. Meist hat er/sie sogar sehr negative Erfahrungen gemacht, die er oder sie in der Kindheit durch Skills kompensiert hat, die damals funktioniert haben, heute aber schädlich sind (zum Beispiel die „Flucht“ ins Kinderzimmer, die sich inzwischen zu einer „Flucht in eine andere Welt“, die sogenannte Dissoziation, entwickelt hat).

Wenn wir Borderliner also davon reden, dass wir Achtsamkeitsübungen machen müssen, dass wir Skills trainieren wollen, dass uns diese oder jene Fähigkeit fehlt, dann ist das leider Realität. Wir müssen nun im Erwachsenenalter mühsam erlernen, was wir früher nicht gelernt haben. Und alte Gewohnheiten ablegen, die früher geholfen haben, heute allerdings zu Problemen geworden sind.

Stellt es euch so vor:
Als Kind seid ihr bei eurer Oma aufgewachsen. Sie hat durchgehend mit euch Italienisch gesprochen. Später, in der Schule, merkt ihr, dass ihr nicht verstanden werdet. Im Erwachsenenalter bemerkt ihr, dass ihr auch noch der Grund seid. Und jetzt sollt ihr eine komplett andere Sprache lernen – von Anfang bis Ende. So nebenbei erklärt euch dann euer Italienischlehrer, dass ihr gar nicht wirklich Italienisch sprecht – ihr sprecht im Grunde einen Kauderwelsch, den nur ihr und eure Oma versteht. Also sollt ihr die alten Fehler weglassen, eine neue Sprache lernen sowie die alte Sprache ordentlich neu lernen.
Das ist harte Arbeit! Bitte denkt daran, bevor ihr uns Borderlinern einen gut gemeinten Tipp geben wollt. Gebt uns lieber eure Unterstützung, eure Hilfe, euer offenes Ohr.

Danke!

written by Nadine